Psychoakustik
Entdecken Sie, wie unsere individuelle Wahrnehmung unsere Vorstellung von der Welt prägt. Mit innovativen Tests ergründen wir das einzigartige Profil Ihrer auditiven Wahrnehmung, jenseits von physiologischem Hörvermögen und Audiometrie.
Wenn Menschen etwas sehen oder hören, so gehen sie normalerweise davon aus, dass andere unter denselben Bedingungen dasselbe wahrnehmen. Im Alltag wird diese Grundannahme kaum hinterfragt. Dennoch lehrt uns die kognitive Psychologie, dass Wahrnehmung zu einen großen Teil auf Interpretation beruht. Dies deshalb, weil das Gehirn nicht nur sensorische Informationen empfängt und ähnlich einer Kamera oder einem Tonträger abbildet, sondern in erster Linie Sinnzusammenhänge konstruiert, die eine adäquate Reaktion auf Veränderungen in unserer Umwelt erlauben. Somit besteht ein ständiges Wechselspiel zwischen Bottom-up-Prozessen (von Sinnesorganen an das Gehirn weitergeleitete Erregungen) und Top-down-Prozessen (Filterung und Deutung von Sinneseindrücken gemäß bestehender Erwartungen). Da sich letztere durch Erfahrung und Lernen herausgebildet haben, können identische Stimuli zu individuell unterschiedlichen Wahrnehmungen, Empfindungen und Bewertungen führen.
Darüber hinaus werden bestimmte Aspekte der sensorisch aufgenommenen Information im Gehirn in spezifischen neuronalen Netzwerken verarbeitet. Die relative Dominanz solcher Netzwerke gegenüber anderen kann individuell unterschiedlich ausgeprägt sein. Dies führt dazu, dass manche Menschen bestimmte sinnliche Eindrücke deutlich, andere hingegen kaum wahrnehmen und erinnern. Beispielsweise können wir uns ein und dieselbe visuelle Szene vorwiegend farblich, durch Helligkeit, Konturen oder Bewegung bestimmt vorstellen und dies künstlerisch zum Ausdruck bringen. Ähnlich ist es in der auditiven Wahrnehmung. Nicht nur der Musikgeschmack von Personen unterscheidet sich mitunter erheblich, selbst einzelne Klänge werden anhand ihrer Qualitäten individuell unterschiedlich wahrgenommen.
Wir entwickeln in unserem Arbeitsbereich Tests und Trainingsprogramme, um präzise Profile der individuellen Hörwahrnehmung zu erstellen und die eigenen Klangwahrnehmungsfähigkeiten weiterzuentwickeln. Im Unterschied zum peripheren Hörvermögen, welches im HNO-Bereich normalerweise mit einem Audiogramm erfasst wird, geht es hierbei um verschiedene Dimensionen der subjektiven auditiven Mustererkennung auf der Ebene des Gehirns.
Von uns entwickelte Hörtests
AmbiQ-Testbatterie zum Grund- und Obertonhören
Die meisten musikalischen Klänge weisen harmonische Spektren auf, welche durch einen Grundton und dessen ganzzahlige Vielfache (Obertöne) gekennzeichnet sind. Während der Grundton wesentlich für das Erkennen der Tonhöhe eines Instruments und der menschlichen Stimme ist, sind die jeweils vorhandenen Obertöne wichtig für das Erkennen klanglicher Details bzw. der typischen Klangfarbe. Das menschliche Gehör ist einerseits in der Lage, in einem Klangspektrum einen tatsächlich vorhandenen oder fehlenden Grundton zu hören bzw. zu ergänzen. Andererseits kann es auch die vorhandenen Obertöne durch Lenkung der Aufmerksamkeit bewusst wahrnehmen. Ersteres („abstraktes Hören“) ist primär eine Leistung der linken, letzteres („konkretes Hören“) eine Leistung der rechten Gehirnhälfte.
Die in Kooperation mit dem Institut für Schallforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Dr. Martin Lindenbeck) entwickelte AmbiQ-Testbatterie (2023) enthält zwei einander ergänzende Tests zur Bestimmung der individuellen Ausprägung des Grund- und Obertonhörens:
- Auditory Ambiguity Test (Erstfassung: Seither-Preisler et al., 2007)
- Pitch Perception Preference Test (Erstfassung: Schneider et al., 2005 a)
KLAWA-Testbatterie
Zur Bestimmung der Fähigkeit zur Unterscheidung von:
- Tonhöhe (Cent)
- Tondauer (ms)
- Tonansatz (ms)
- Lautheit (dB)
- Rhythmus
(Schneider & Seither-Preisler, 2022, 2023)
Test zur graduellen Erfassung des absoluten Gehörs
Das absolute Gehör ist die Fähigkeit, die Tonhöhe eines gehörten Tons ohne Referenz korrekt zu benennen (z.B. Des, B oder Fis, d.h. das „Chroma“, ohne Berücksichtigung der Oktavlage). Im westlichen Kulturkreis tritt das absolute Gehör bei Nichtmusiker:innen äußerst selten auf (~1:10.000), bei professionellen Musiker:innen findet man es hingegen relativ häufig (~1:10). In asiatischen Ländern ist die Fähigkeit erheblich weiter verbreitet, was auf die bedeutungstragenden Eigenschaften von Tonverläufen in tonalen Sprachen einerseits und häufig frühen Musikunterricht andererseits zurückgeführt wird. Unser Test zum absoluten Gehör ist das bisher einzige Verfahren, welches die graduelle Ausprägung dieser Fähigkeit erfasst.
(Wengenroth & Schneider, 2014)
Test zur graduellen Erfassung des relativen Gehörs
Das relative Gehör ermöglicht es Bezüge zwischen einzelnen Tonhöhen zu erkennen. Während die grundlegenden Fähigkeit relativ zu hören universell ist und die Voraussetzung dafür bildet, Melodien in verschiedenen Tonlagen wiederzuerkennen (z.B. wenn „Happy Birthday“ von einer hohen Kinderstimme oder einer tiefen Männerstimme gesungen wird), ist die Fähigkeit, die in einer Melodie enthaltenen musikalischen Intervalle richtig zu benennen, eine im Rahmen der musikalischen Praxis erworbene Fähigkeit. Allerdings variiert auch diese in Abhängigkeit von der individuellen musikalischen Kompetenz.
(Benner & Schneider, 2019, 2023)
Sprachperzeptionstest
In diesem Test wird die Fähigkeit bestimmt, sich einzelne Wörter unbekannter Sprachen anhand ihrer klanglichen Eigenschaften zu merken und diese in gesprochenen Sätzen wiederzuerkennen. Es geht also um die individuelle Fähigkeit, die musikalische Qualität von Sprache zu erfassen. Der Sprachperzeptionstest ist Teil einer umfassenden Testbatterie unseres Mitarbeiters Dr. Markus Christiner zur Sprachwahrnehmung und -begabung. Die Entwicklung wird durch die Österreichische Akademie der Wissenschaften gefördert (zunächst DOC-Team Projekt, aktuell APART-Projekt).
(Christiner, 2021, 2022 a,b)
Psychoakustische Forschungsthemen
In unserer Forschung befassen wir uns mit der Frage, ob individuelle Hörwahrnehmungsprofile besser durch stabile neurologische Dispositionen (Begabung) oder Neuroplastizität (Lernerfahrung) erklärt werden können. Bisher fanden wir Evidenz für beide Aspekte und ein dynamisches Zusammenspiel von anlage- und umweltbedingten Faktoren (Schneider et al., 2023).
In unserer AMseL-Langzeitstudie zeigte sich, dass sich die Unterscheidung von elementaren Klangmerkmalen (Frequenz, Lautstärke, Tonansatz, Tondauer) und Rhythmen von der Kindheit bis in das junge Erwachsenenalter kontinuierlich verbessert, wobei aktives Musizieren einen positiven Einfluss ausübt.
Unsere Befunde zum Grund- oder Obertonhören zeigen, dass der individuelle Hörmodus sowohl von den relativen Volumina und Aktivierungen in der rechten und linken Gehirnhälfte (Schneider et al., 2005) als auch von der musikalischen Vorerfahrung (Seither-Preisler et al., 2007; Schneider at al., 2023) abhängt. Auch zeigte sich bei Musiker:innen ein systematischer Zusammenhang mit der Präferenz bestimmter Musikinstrumente (Schneider et al., 2005 b). Bezüglich der Fähigkeit des absoluten Gehörs wurde erstmals ein rechtshemisphärisches neuronales Netzwerk identifiziert, welches die unmittelbare Sinneserfahrung repräsentiert, sowie eine Ko-Aktivierung des Broca-Areas nachgewiesen, welches das „Labeling“ der wahrgenommenen Tonhöhen in musikalischen Tonhöhenkategorien vornimmt (Wengenroth & Schneider, 2014).
Abgesehen von den genannten selbst entwickelten Tests werden in Forschung und Lehre noch weitere Verfahren internationaler Testentwickler:innen eingesetzt:
Literatur
Benner, J., Reinhardt, J., Christiner, M., Wengenroth, M., Stippich, C., Schneider, P., & Blatow, M. (2023). Temporal hierarchy of cortical responses reflects core-belt-parabelt organization of auditory cortex in musicians. Cerebral Cortex, 33(11), 7044-7060. https://dx.doi.org/10.1093/cercor/bhad020
Benner, J., & Schneider, P. (2019). Das innere Ohr. Absolutes und relatives Gehör. Ruperto Carola, (14), 36-43. https://doi.org/10.17885/heiup.ruca.2019.14.23972
Christiner, M., Gross, C., Seither-Preisler, A., & Schneider, P. (2021). The melody of speech: what the melodic perception of speech reveals about language performance and musical abilities. Languages, 6(3), 132. https://dx.doi.org/10.3390/languages6030132
Christiner, M., Renner, J., Groß, C., Seither-Preisler, A., Benner, J., & Schneider, P. (2022 a). Singing Mandarin? What short-term memory capacity, basic auditory skills, and musical and singing abilities reveal about learning Mandarin. Frontiers in Psychology, 13, Article 895063. https://dx.doi.org/10.3389/fpsyg.2022.895063
Christiner, M., Serrallach, B. L., Benner, J., Bernhofs, V., Schneider, P., Renner, J., ... & Groß, C. (2022 b). Examining individual differences in singing, musical and tone language ability in adolescents and young adults with dyslexia. Brain Sciences, 12(6), 744. https://dx.doi.org/10.3390/brainsci12060744
Schneider, P., Engelmann, D., Groß, C., Bernhofs, V., Hofmann, E., Christiner, M., Zeidler, B.,… & Seither-Preisler, A. (2023). Neuroanatomical disposition, natural development, and training-induced plasticity of the human auditory system from childhood to adulthood: a 12-year study in musicians and nonmusicians. Journal of Neuroscience, 43(37), 6430-6446.
Schneider, P., Groß, C., Bernhofs, V., Christiner, M., Benner, J., Turker, S., ... & Seither‐Preisler, A. (2022). Short‐term plasticity of neuro‐auditory processing induced by musical active listening training. Annals of the New York Academy of Sciences, 1517(1), 176-190. https://doi.org/10.1111/nyas.14899
Schneider, P., Sluming, V., Roberts, N., Scherg, M., Goebel, R., Specht, H. J., ... & Rupp, A. (2005 a). Structural and functional asymmetry of lateral Heschl's gyrus reflects pitch perception preference. Nature neuroscience, 8(9), 1241-1247. https://doi.org/10.1038/nn1530
Schneider, P., Sluming, V., Roberts, N., Bleeck, S., & Rupp, A. (2005 b). Structural, functional, and perceptual differences in Heschl's gyrus and musical instrument preference. Annals of the New York Academy of Sciences, 1060(1), 387-394. https://dx.doi.org/10.1196/annals.1360.033
Seither-Preisler, A., Johnson, L., Krumbholz, K., Nobbe, A., Patterson, R., Seither, S., & Lütkenhöner, B. (2007). Tone sequences with conflicting fundamental pitch and timbre changes are heard differently by musicians and nonmusicians. Journal of Experimental Psychology: Human Perception and Performance, 33(3), 743. https://dx.doi.org/10.1037/0096-1523.33.3.743
Wengenroth, M., Blatow, M., Heinecke, A., Reinhardt, J., Stippich, C., Hofmann, E., & Schneider, P. (2014). Increased volume and function of right auditory cortex as a marker for absolute pitch. Cerebral Cortex, 24(5), 1127-1137. https://dx.doi.org/10.1093/cercor/bhs391