Entwicklung auditiver und musikalischer Fähigkeiten in der Lebenszeitperspektive
Aktives Musizieren erfordert das Zusammenspiel zahlreicher Gehirnfunktionen.
Aktives Musizieren erfordert das Zusammenspiel zahlreicher Gehirnfunktionen. Diese betreffen nicht nur die elementare Hörwahrnehmung, sondern auch räumliche, klangliche und zeitliche Mustererkennungsprozesse, das Lesen von Noten und die damit verbundene Planung von Bewegungsabläufen, sowie emotionale und kognitive Bewertungsprozesse. Spielt oder singt man in einem Orchester oder einer Band, so erfordert dies ein genaues Hinhören auf andere und auch auf sich selbst. Bei der freien Improvisation braucht es darüber hinaus auch die Fähigkeit, unmittelbar auf den Ausdruck der Mitmusiker:innen zu reagieren und mit ihnen zu kommunizieren. Es ist daher plausibel, dass durch das Singen und Spielen von Musikinstrumenten auch eine Reihe anderer Fähigkeiten trainiert werden, was zu entsprechenden neuroplastischen Veränderungen im Gehirn führen sollte.
Trotz des öffentlichen Interesses an der Frage, wie sich Singen und Musizieren auf das Gehirn und Verhalten von Kindern und Jugendlichen auswirken, ist aus neurowissenschaftlicher Sicht relativ wenig über das Zusammenspiel zwischen Begabung, biologischen Reifungsprozessen und lernbedingter Plastizität durch musikalisches Training bekannt. Dies liegt daran, dass es bisher zwar zahlreiche Querschnittsstudien mit nur einem Messzeitpunkt und einige Längsschnittstudien über einen Zeitraum von wenigen Jahren gab, aber keine Untersuchungen über den gesamten Entwicklungsverlauf.
AMseL-Studie
Bei unserer AMseL-Studie ("Audio- und Neuroplastizität des Musikalischen Lernens"; Leitung: Peter Schneider & Annemarie Seither-Preisler; Laufzeit 2009-2021) handelt es sich um die erste systematische Längsschnittstudie zur Entwicklung der menschlichen Hörverarbeitung vom Grundschulalter (7-8 Jahre) bis ins junge Erwachsenenalter (18-19 Jahre). AMseL wurde als Verbundprojekt in Kooperation zwischen den Universitäten Heidelberg und Graz durchgeführt und war Teil der vom Deutschen BMBF geförderten Begleitforschung zu dem in NRW und Hamburg laufenden kulturellen Bildungsprogramm JeKi ("Jedem Kind ein Instrument" https://www.kulturstiftung-des-bundes.de/de/projekte/erbe_und_vermittlung/detail/jedem_kind_ein_instrument.html). Später wurde die Langzeitstudie durch die DFG weiter gefördert, was einen Untersuchungszeitraum von insgesamt 12 Jahren mit 5 Messzeitpunkten ermöglichte. Mittlerweile ist die vormalige Heidelberger AG „Musik und Gehirn“ https://www.musicandbrain.de/team.html mit mehreren Mitarbeiter:innen (Peter Schneider, Bettina Zeidler, Markus Christiner) Teil des Grazer Arbeitsbereichs „Musikpsychologie und Gehirnforschung“.
In der AMseL-Studie wurden neuroanatomische, neurofunktionelle und verhaltensbezogene Methoden kombiniert. Als neurologische Verfahren kamen die strukturelle und funktionelle Magnetresonanztomographie (MRT, fMRT) sowie die Magnetenzephalographie (MEG) zum Einsatz. Zudem wurden - weitgehend selbst entwickelte - psychoakustische Testbatterien verwendet (Schneider et al., 2005; Seither-Preisler et al., 2007; Schneider & Seither-Preisler, 2023). Diese umfassten Tests zur Unterscheidung elementarer Klangmerkmale, zur komplexen Mustererkennung und zur Melodie- und Rhythmuswahrnehmung. Außerdem wurden Fragebögen zum sozialen und schulischen Umfeld vorgegeben und psychologische Tests zur Aufmerksamkeit, phonologischen Bewusstheit und Lese-Rechtschreibkompetenz durchgeführt.
Insgesamt nahmen 220 Proband:innen an der Studie teil, wobei etwa die Hälfte von Lern- und Entwicklunsgauffälligkeiten (LRS, ADHS, ADS) betroffen war. Der größte Teil der Proband:innen absolvierte alle 5 Messzeitpunkte.
Wir fanden bereits im frühen Alter (7-8 Jahre) zu Beginn des formalen musikalischen und schulischen Unterrichts deutliche individuelle Unterschiede in der Form und Größe des auditorischen Kortex (insbesondere der Heschl’schen Querwindungen / HGs). Diese Unterschiede blieben unabhängig vom musikalischen Training über den gesamten Untersuchungszeitraum stabil. Interessanterweise sagten die Volumina der grauen Substanz im rechten HG relativ gut vorher, ob die Proband:innen in den darauffolgenden Jahren keine, wenig oder viel Zeit in das Instrumentalspiel investierten würden. Dies legt nahe, dass es sich bei diesem Merkmal um einen neuroanatomischen Marker musikalischer Begabung handelt. Zudem beobachteten wir unabhängig von der musikalischen Praxis mit steigendem Lebensalter eine kontinuierliche Zunahme an weißer Substanz in den Hörarealen beider Hemisphären. Dieser biologische Reifeprozess kennzeichnet eine wachsende neuronale Vernetzung der Hörareale mit anderen Gehirnregionen. Mit anderen Worten: Unser Gehör ist nicht bei der Geburt oder in der frühen Kindheit fertig ausgereift, es entwickelt sich stetig weiter. Wobei sich zeigte, dass primäre Areale, die für elementare Verarbeitungsprozesse zuständig sind, bereits in der Pubertät voll ausgereift sind, während sekundäre Areale, die wichtig für die auditive Aufmerksamkeit und Mustererkennung sind, sich bis ins Erwachsenenalter weiter entwickeln.
Auch fanden sich plastische Veränderungen in der Gehirnaktivierung (auditorisch evozierte Antworten P1-N1-P2). Je älter die Proband:innen wurden und je mehr sie zuvor musiziert hatten, desto schneller reagierte deren Gehirn auf musikalische Klänge und desto höher war die Synchronisation zwischen der rechten und linken Hemisphäre. Zudem zeigten nur viel Musizierende am Ende der Studie eine ausgeprägte P2-Komponente als Marker einer aufmerksamen, bewusst gesteuerten auditiven Wahrnehmung. Neben diesen neurologischen Hinweisen zeigte sich auch auf Verhaltensebene, dass musikalisches Training einen positiven Einfluss auf die Unterscheidungsfähigkeit elementarer Klangmerkmale (Frequenz, Tondauer, Ton-Ansatz) und Mustererkennungsprozesse (Rhythmuswahrnehmung und subjektive Tonhöhenerkennung) hat. Daraus folgt, dass frühes musikalisches Training die Entwicklung von Hörfunktionen von der Kindheit bis ins junge Erwachsenenalter substanziell fördert.
Das beobachtete Zusammenspiel von „Nature" (stabile biologische Dispositionen und natürliche Reifeentwicklung) und "Nurture" (lerninduzierte Plastizität) wurde von uns in einem neuropsychologischen Entwicklungsmodell des menschlichen Hörens zusammengefasst (Schneider et al., 2023). Das Modell hat vielfältige Implikationen für zukünftige hör- und musiktherapeutische Anwendungen, für die Pädagogik, sowie für bildungspolitische Diskussionen zum Stellenwert der musikalischen Frühförderung in Kindergärten und des Musikunterrichts an Schulen.
In diesem Zusammenhang beraten wir auch das musikalische Sprachförderprogramm „Bakabu der Ohrwurm“ wissenschaftlich: https://www.bakabu.at/. Dieses wurde gemeinsam von Sprachwissenschaftler:innen und Komponisten entwickelt und läuft an zahlreichen österreichischen Kindergärten. Ziel des Programms ist ein spielerisches Erlernen der deutschen Sprache durch Singen und Bewegung. Mittlerweile profitierten bereits ~350.000 Kinder sowohl mit Deutsch als Muttersprache als auch mit Migrationshintergrund von dem Programm. Seit Oktober 2022 läuft auch eine gleichnamige Kindersendung im ORF.
Interview mit Annemarie Seither-Preisler im staatlichen australischen Nachrichtensender ABC News am 23.08.2023 zu den Ergebnissen der AMseL-Langzeitstudie: https://www.abc.net.au/news/2023-08-23/12-year-study-finds-musical-training-aids-brain-development/10276682
Literatur
- Schneider, P., Sluming, V., Roberts, N., Scherg, M., Goebel, R., Specht, H. J., ... & Rupp, A. (2005). Structural and functional asymmetry of lateral Heschl's gyrus reflects pitch perception preference. Nature neuroscience, 8(9), 1241-1247. https://doi.org/10.1038/nn1530
- Seither-Preisler, A., Johnson, L., Krumbholz, K., Nobbe, A., Patterson, R., Seither, S., & Lütkenhöner, B. (2007). Tone sequences with conflicting fundamental pitch and timbre changes are heard differently by musicians and nonmusicians. Journal of Experimental Psychology: Human Perception and Performance, 33(3), 743. https://dx.doi.org/10.1037/0096-1523.33.3.743
- Seither-Preisler, A., Parncutt, R., & Schneider, P. (2014). Size and synchronization of auditory cortex promotes musical, literacy, and attentional skills in children. Journal of Neuroscience, 34(33), 10937-10949.
- Schneider, P., Engelmann, D., Groß, C., Bernhofs, V., Hofmann, E., Christiner, M., ... & Seither-Preisler, A. (2023). Neuroanatomical Disposition, Natural Development, and Training-Induced Plasticity of the Human Auditory System from Childhood to Adulthood: A 12-Year Study in Musicians and Nonmusicians. Journal of Neuroscience, 43(37), 6430-6446.