Hören bei neuroentwicklungsbedingten Störungen
Menschen mit Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten sind häufig auch von auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen betroffen. Wir forschen mit Kindern und Jugendlichen mit LRS, ADHS, ADS und ASS und entwickeln maßgeschneiderte Hörtrainings.
Die auditive Verarbeitung im Gehirn spielt eine zentrale Rolle in der kognitiven, emotionalen und sprachlichen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Eine effektives Erkennen elementarer akustischer Merkmale und komplexer Muster ist nicht nur eine wesentliche Voraussetzung für das Erlernen von Sprache, sondern auch für das Lesen, Schreiben sowie für die soziale Kommunikation. Bei Menschen mit neurodiversen Entwicklungsprofilen, insbesondere bei Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS, ADS) und Lese-Rechtschreib-Störung (LRS), treten auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen deutlich häufiger auf als in der Normalpopulation (Seither-Preisler et al., 2014). Unsere Forschung zeigt, dass bei LRS sowohl die Unterscheidungsfähigkeit für elementare akustische Merkmale (Frequenz, Tonansatz) als auch für musikalische Muster (Metrum, Rhythmus, Melodie) signifikant verringert ist. Auch die subjektive Klangwahrnehmung ist verändert. Bei ADHS sind nur Beeinträchtigungen in der musikalischen Mustererkennung und bei ADS keine auditiven Besonderheiten zu beobachten; Abb. 1.
Aktuell erforscht unsere Doktorandin Bettina Zeidler, welches auditorische Profil charakteristisch für Kinder mit Autismus-Spektrum-Störung (ASS) ist.
Wir gehen davon aus, dass eine verringerte auditive Sensibilität im Kindesalter sich negativ auf sprachbezogene schulische Leistungen und soziale Interaktionen auswirkt. Somit kommt dem aktiven Hören, fokussierten Hinhören und auch Zuhören für den schulischen und späteren beruflichen Erfolg sowie für die persönliche Lebenszufriedenheit eine entscheidende Rolle zu.
Wir entwickeln in unserem Arbeitsbereich Methoden, um auditive Verarbeitungsprozesse im Gehirn mit einer Kombination aus elektrophysiologischen (MEG, EEG) und bildgebenden (MRT) Verfahren sowie auditiven Tests hochpräzise zu vermessen. Die so erfassten neuro-auditorischen Profile erlauben es, atypische Verarbeitungsmuster frühzeitig zu erkennen, welche wiederum Rückschlüsse auf zugrundeliegende Entwicklungsauffälligkeiten erlauben; Abb. 2 (Serrallach et al., 2016).
Abb. 2: Strukturelle und funktionelle Neuromarker von Lese-Rechtschreib-Schwäche, ADHS und ADS im auditorischen Kortex von Kindern.
A) 3D-Rekonstruktion eines individuellen auditorischen Kortex (AC); die Heschl’schen Querwindungen sind Blau (linke Hemisphäre) und Rot (rechte Hemisphäre) gefärbt. Das Planum temporale (hintere dreieckige Struktur) ist in Grau dargestellt.
B) Aufsicht auf die gruppengemittelten auditorischen Kortizes (links: neurotypische Kontrollgruppe; rechts davon neurodiverse Gruppen LRS, ADHS, ADS). Die Volumina an grauer Substanz in den HGs und PTs beider Gehirnhemisphären unterscheiden sich deutlich zwischen den Gruppen.
C) Gruppengemittelte auditorisch evozierte Antworten auf musikalische Klänge für die rechte (rote Kurve) und linke (blaue Kurve) Hemisphäre. Im Gegensatz zur neurotypischen Gruppe zeigten alle drei neurodiversen Gruppen deutlich abweichende spezifische Aktivierungsmuster.
D) Die Kombination neuroanatomischer (y-Achse) und -funktioneller (x-Achse) Merkmale ermöglicht eine nahezu perfekte Abgrenzung der neurotypischen Gruppe (graue Kreise) von den drei zusammengefassten neurodiversen Gruppen (farbige Kreise; LRS: gelb, ADHS: blau, ADS: rot). Große Symbole kennzeichnen Mittelwerte.
Darüber hinaus gelang es mit unserem Ansatz, die spezifischen Störungsbilder LRS, ADHS und ADS mit ausgesprochen hohen Sensitivitäten (korrekt klassifizierte Fälle) und Spezifitäten (korrekt klassifizierte Unauffällige) richtig zu identifizieren und objektiv voneinander abzugrenzen; Abb. 3 (Serrallach et al., 2016).
Dies eröffnet vielversprechende Chancen für eine neurowissenschaftlich basierte objektive Früherkennung und erweiterte Diagnostik kindlicher Lern- und Entwicklungsstörungen. Es ist unser Ziel, die beschriebenen diagnostischen Ansätze weiterzuentwickeln und zunehmend auch für die kinder- und jugendpsychologische Praxis verfügbar zu machen.
Aufbauend auf diesen Erkenntnissen entwickeln wir auch spezielle Hörtrainings, die gezielt die betreffenden neuronalen Netzwerke im Gehirn stärken und Reifeprozesse beschleunigen, um die auditive Verarbeitung zu verbessern und so die Entwicklungsbarrieren bei betroffenen Kindern effektiv zu überwinden.
Literatur
Seither-Preisler, A., Parncutt, R., & Schneider, P. (2014). Size and synchronization of auditory cortex promotes musical, literacy, and attentional skills in children. Journal of Neuroscience, 34(33), 10937-10949.
Serrallach, B., Groß, C., Bernhofs, V., Engelmann, D., Benner, J., ….. Parncutt, R., Schneider, P. & Seither-Preisler, A. (2016). Neural biomarkers for dyslexia, ADHD, and ADD in the auditory cortex of children. Frontiers in neuroscience, 10, 324. http://dx.doi.org/10.3389/fnins.2016.00324